Montag, 12. Mai 2025

Brief von Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann an alle Gläubigen

Speyer, den 09.05.2025

 

Den Brief von Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann finden Sie HIER.

 

Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Speyer,


am 4. Sonntag der Osterzeit feiert die Kirche den „Guten-Hirten-Sonntag“. Im Zentrum der Schrift-
texte steht das bekannte Gleichnis aus dem Johannes-Evangelium: „Ich bin der gute Hirte. Meine
Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir“ (Joh 10,11.27). Der auferstandene
Herr ist für uns der gute Hirte, der sich um seine Herde sorgt. Er will, dass alle, die an ihn glauben,
seinem Vorbild folgen und einen wachen Blick für Schwache und Notleidende haben.
In diesem Jahr hören wir diese Worte vor dem Hintergrund des ersten Teils der UAK-Missbrauchs-
Studie für unser Bistum, der vor wenigen Tagen veröffentlicht worden ist. Mich – und vermutlich
viele andere – bedrückt zutiefst der himmelschreiende Widerspruch zwischen dem Vorbild und An-
spruch des guten Hirten Jesus Christus und dem eklatanten Versagen kirchlicher Amtsträger in der
Diözese Speyer. Die Studie führt uns das Ausmaß des Unrechts und Leids, das den Betroffenen an-
getan wurde, anschaulich vor Augen. Einen besonderen Schwerpunkt bilden dabei die 50iger und
60iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bis hinein in die siebziger Jahre, insbesondere in den als
Hotspots identifizierten kirchlichen Heimen. Die Studie spricht von etwa 150 Klerikern, Ordensleu-
ten und kirchlichen Mitarbeiter/innen – auch in leitenden Stellungen –, die seit 1946 mutmaßlich oder
erwiesen Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene sexuell missbraucht haben. Hinzukommen all
jene – ebenfalls bis in die Leitung des Bistums –, die durch Wegsehen oder Vertuschen Täter geschützt
und Betroffene missachtet haben und so ebenfalls schuldig geworden sind.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen als Haupt- oder Ehrenamtliche, Priester oder Gläubige, Engagierte oder
Kirchenferne beim Lesen der Studie und der Berichterstattung dazu ergeht. Für viele ist das Ausmaß
der Gewalt und des Leides, das uns hier entgegentritt, sicherlich zutiefst erschütternd. Vielleicht wer-
den auch bei einigen von Ihnen konkrete Erinnerungen an erlittenes Unrecht oder an bestimmte Per-
sonen wach. Und nicht zuletzt schmerzt die Wunde tiefer Enttäuschung über Menschen, denen man
solche Taten niemals zugetraut hätte. Es zeigt sich der Schmerz verletzten Vertrauens nicht nur in
einzelne Personen, sondern auch in die Kirche als solche, in ihre Amtsträger, die ganz dem Vorbild
des guten Hirten zuwiderlaufend eher den Selbstschutz im Auge hatten, als den von solchem Unrecht
und Leid Betroffenen ihr Gehör zu schenken.
Immer wieder begegne ich aber auch Menschen, die mit Unverständnis reagieren und meinen, dass
doch endlich ein Schlussstrich unter die Sache gezogen werden müsse. Das aber widerspricht nicht
nur der Gerechtigkeit, die den Betroffenen widerfahren muss. Es geht viel tiefer auch heute noch
darum, dass noch bestehende Schweigespiralen gebrochen werden müssen, damit Betroffene den Mut
finden, sich zu melden. Das ist eine der zentralen Lehren aus dem zutiefst beschämenden Geschehen.
Dazu ist eine umfassende Aufarbeitung unerlässlich. Und dazu gehört auch, dass wir in aller Offenheit
miteinander darüber sprechen. Welche Gedanken und Gefühle bewegen mich? Welche Einsichten
können wir gewinnen? Was folgt daraus für meinen Glauben und für eine wirksame Erneuerung der
Kirche? An dieser Stelle möchte ich Sie dazu ermutigen, bei Bedarf die vielfältigen Gesprächs- und
Hilfsangebote wahrzunehmen, über die Sie sich auf der Bistums-Homepage informieren können.
Für mich persönlich stellt die Auseinandersetzung mit diesem zutiefst beschämenden Geschehen eine
schmerzliche Lebens- und Lernerfahrung da. Erst durch persönliche Gespräche mit Betroffenen wur-
den mir das Ausmaß und die Ursachen sexualisierter Gewalt wirklich bewusst, ebenso ihr unermess-
liches Leid und die damit verbundenen, oft lebenslangen Folgen. Zugleich wurde mir bewusst, dass
es dabei nicht nur um Einzeltäter geht, sondern wie sehr auch kirchliche Strukturen den Missbrauch
ermöglicht und begünstigt haben. Ich habe daraus viel gelernt im Hinblick auf mein Selbstverständnis
als Seelsorger wie auch für mein Leitungshandeln als Bischof.
Als solcher trage ich die Letztverantwortung in unserem Bistum. Diese umfasst sowohl die amtliche
Verantwortung für alles Unrecht und Versagen in den Amtszeiten meiner Vorgänger, das Menschen
durch das Handeln von Klerikern und kirchlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen angetan wurde,
wie auch die persönliche Verantwortung für alles, was durch mich oder unter meiner Leitung gesche-
hen ist oder unterlassen wurde: insbesondere eine ungenügende Zuwendung zu den Betroffenen, ein
zu laxer Umgang mit Beschuldigten und eine mangelhafte Wahrnehmung von Aufsichtspflichten.
Dieser Verantwortung stelle ich mich!
Zugleich bitte ich alle Betroffenen sexualisierter Gewalt um Vergebung für das Unrecht und Leid, das
ihnen im Raum der Kirche angetan worden ist – von Seiten der Täter wie auch von Seiten der Kirche
als Institution. Aus den Gesprächen mit Betroffenen weiß ich, dass manche nicht vergeben können
oder wollen – weil die Bitte um Entschuldigung zu spät kommt oder weil sie weit hinter dem erlitte-
nen Unrecht zurückbleibt. Das verstehe und akzeptiere ich! Und doch ist es mir wichtig, die Bitte um
Vergebung auszusprechen: Gegenüber den Betroffenen als Ausdruck dafür, dass ich ihnen glaube.
Gegenüber ihren Familien und allen, die ebenfalls unter dem Missbrauch zu leiden hatten. Und ge-
genüber allen, deren Glaube an Gott und deren Verbundenheit mit ihrer Kirche durch den Missbrauch
zutiefst erschüttert worden ist.
Eine solche Bitte um Vergebung ist jedoch nur glaubwürdig, wenn ihr konkrete Taten folgen: Indem
wir das Geschehene umfassend aufarbeiten, Täter zur Verantwortung ziehen, Missbrauch ermög-
lichende Strukturen grundlegend erneuern und wirksame Maßnahmen ergreifen, um die Kirche zu
einem sicheren Ort zu machen. Dass unser Bistum in den vergangenen Jahren wichtige Schritte in
diese Richtung gegangen ist, wird auch in der UAK-Studie ausdrücklich gewürdigt. Mit Einzelmaß-
nahmen alleine ist es jedoch nicht getan. Was wir brauchen, ist ein umfassender Kulturwandel in der
katholischen Kirche. Dieser ist bereits im Gange. Insbesondere mit dem Synodalen Weg haben wir
uns zum Ziel gesetzt, uns den strukturellen Ursachen sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche
zu stellen. Diesen Weg habe ich wesentlich mit angestoßen und vorangetrieben. Für seine konkrete
Umsetzung in unserem Bistum setze ich mich auch weiterhin mit aller Kraft und Entschiedenheit ein!
Für die Zeit nach 2010 und nochmals intensiver nach der Veröffentlichung der MHG-Studie 2018
spricht die Studie von einer „deutlichen Veränderung“ in unserem Bistum durch eine stärkere Fokus-
sierung auf die „Bedürfnisse der Betroffenen, die konsequentere Verfolgung der Beschuldigten und
die Präventionsarbeit“. Ich möchte an dieser Stelle allen in den Pfarreien, Verbänden und Einrichtun-
gen, die sich vor allem im Hinblick auf eine verbesserte Prävention eingesetzt haben und einsetzen,
von Herzen danken. Hier ist besonders die Erstellung institutioneller Schutzkonzepte und ihre kon-
krete Umsetzung auf allen Ebenen zu nennen. Sie alle helfen durch ihr Engagement mit, dass unsere
Kirche zu einem immer sichereren Ort wird.
Dennoch, das hält die Studie auch fest, ist noch vieles zu tun. Die Aufarbeitung zusammen mit den
Betroffenen bleibt ein ständiger Lernprozess. Und auch nach Veröffentlichung des zweiten Teils der
Missbrauchsstudie 2027wird die Aufarbeitung wie der konkrete Einsatz für eine sichere Kirche nicht
abgeschlossen sein. Einen Schlussstrich kann und darf es nicht geben! Der Umgang mit dem Thema
Missbrauch, die Aufarbeitung des vergangenen und die kritische Reflexion unseres gegenwärtigen
Handelns sowie das Bemühen um wirksame Präventionsmaßnahmen ist und bleibt ein ständiger Lern-
prozess. Ihm wollen und werden wir uns auch weiterhin stellen!
„Ich bin der gute Hirte“, sagt Jesus im heutigen Sonntagsevangelium. Er selbst ist der Maßstab für
eine evangeliumsgemäße und betroffenensensible Erneuerung seiner Kirche. Als Ihr Bischof bitte ich
Sie: Helfen Sie mit, dass wir immer mehr eine Kirche werden, die sich im Wissen darum, dass die
Wahrheit freimacht (vgl. Joh 8,32), ehrlich ihrer eigenen Schuld und ihrem eigenen Versagen stellt.
Eine Kirche, die Unrecht beim Namen nennt und sich besonders der Schwachen annimmt. Und eine
Kirche, die sich gemäß unserer Bistumsvision als Segensort und damit als Raum sicherer Seelsorge
begreift. Auf diesem Hintergrund freue ich mich darüber, dass unser neuer Papst Leo XIV. den von
seinem Vorgänger begonnenen Weg zu einer synodalen Kirche hin weitergehen wird. Mit ihm zusam-
men bitten wir Christus, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, um seinen Geist, damit wir den
Weg der Erneuerung mit Mut und Zuversicht gehen können.


Dankbar für all Ihr Engagement und mit der Bitte um Ihr Gebet für unser Bistum bin ich
Ihr


+ Dr. Karl-Heinz Wiesemann
Bischof von Speyer